Samstagskolumne Peter J. König 04.08.2012

"Und sie bewegt sich doch!"

Gestern, am Freitagmorgen gegen elf Uhr ist bei den Olympischen Spielen in London etwas passiert, das wichtiger ist, als alle Medaillen, die man dort in den gesamten vierzehn Tagen erringen kann. Vielleicht hat der rekordvernarrte, ergebnisorientierte Sportfreak eine etwas eingetrübte Sichtweise, sodass er diese Geschehnisse schlichtweg nicht wahrnimmt. 

Tatsache ist, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Olympischen Spiele der Neuzeit eine weibliche Sportlerin aus Saudi-Arabien an den Spielen teilnehmen durfte. 

 Insgesamt sind es zwei Athletinnen, die zur Mannschaft der Saudis gehören. Gestern kam Wodjan Shaherkani als Judokämpferin zu ihrem ersten Einsatz, ein Ereignis von historischer Dimension. Historisch ist auch die Tatsache einzuordnen, dass zum ersten Mal in der Geschichte des modernen Olympia alle Mannschaften mit weiblicher Beteiligung angetreten sind. Dies ist zweifellos der Verdienst des obersten Olympiers Jacques Rogge, der in mühevollen Verhandlungen mit den muslimischen Staaten es erreicht hat, dass diese Länder akzeptierten, Frauen an den Spielen teilnehmen zu lassen. 

Natürlich musste man sich zuerst über die Bekleidungsfrage einigen, denn von dem Verhüllungsgebot wäre niemals ein gläubiger Moslem abgerückt. Des Weiteren musste sichergestellt werden, dass die entsprechende männliche Vormundschaft zu den olympischen Stätten Zutritt bekam. Lange Verhandlungen mit dem IOC haben dann endlich den Durchbruch geschafft und diese Historie möglich gemacht. Dann kam sie gestern Morgen auf die internationale Bühne, die sechszehnjährige Judoka, eingehüllt in einem weißen, hochgeschlossenen Judo-Sportanzug mit schwarzem, enganliegendem Kopftuch, einer Badekappe ähnelnd. Wodjan Shaherkani war etwas zögerlich, als sie die Arena mit den vielen Zuschauern und der Fülle der Medienvertreter betrat. 

Ein kräftiger, männlicher Aufpasser, als Dolmetscher getarnt, bahnte ihr den Weg zur Matte. Ihre Gegnerin war die Puerto Ricanerin Melissa Mojica. Als der Hallensprecher die Kämpferin als erste weibliche Olympiateilnehmerin aus Saudi-Arabien vorstellte, brauste ein derartiger Jubel auf, als hätte hier gerade eine britische Sportlerin eine Goldmedaille gewonnen. Wie mag sich die sechszehnjährige Olympionikin in diesem Augenblick gefühlt haben? Welche Gedanken gingen ihr just in diesem Moment durch den Kopf? Viel Zeit hatte sie nicht dabei zu verweilen. Es blieben ihr auch nur 81 Sekunden, um sich um sportlichen Ruhm zu bemühen, denn dann war der Kampf schon beendet. Die Puerto Ricanerin machte kurzen Prozess. 

Mit den ersten Kampfgriffen war die Sache erledigt, zugunsten von Melissa Mojica. Die junge Dame aus Saudi-Arabien nahm es ruhig und besonnen hin. Sie hatte einen viel größeren Sieg ja schon zuvor errungen. Es war die Teilnahme an den Olympischen Spielen. Wie bedeutungslos war dagegen ihr Sturz auf die Matte und das schnelle Kampfende, zumal sie ja keine professionelle Ausbildung in dieser Sportart erlangen konnte. Gestern wurde eine Tür aufgestoßen, von der man glaubte, dass sie ewig verschlossen bleiben würde. "Und sie bewegt sich doch!" wie einst Galileo Galilei behauptete. So ist auch der Auftritt der mutigen Judokämpferin zu verstehen, als ein Zeichen für die kulturelle Veränderung in den islamischen Staaten.

Frauen, Jahrhunderte lang unterdrückt, beginnen ihren unaufhaltsamen Weg in der muslimischen Gesellschaft zu einer Gleichberechtigung, ohne die kein moderner Staat mehr existieren kann. Dieses haben auch die archaischen Systeme erkannt, denn ohne die Potentiale seiner weiblichen Mitbürger geht in den muslimischen Ländern im einundzwanzigsten Jahrhundert gar nichts mehr. Schon heute dominieren in Saudi-Arabien bei den Zahlen der Hochschulabsolventen die jungen Frauen in allen wissenschaftlichen Bereichen. Sie haben die weitaus besseren Examina, die stärkere Motivation und stellen das größte Reservoir an „human capital“ in den Staaten am Persischen Golf. Selbst in den ostasiatischen Moslemstaaten wird man in der Zukunft nicht mehr auf diese Ressource verzichten können. 

Frauen sind die intellektuelle Zukunft aller Länder, im Westen zweifelt schon seit langem keiner mehr daran, der bereit ist die Zeichen der Zeit zu akzeptieren. 

 Bei den Leichtathletikwettbewerben werden wir die zweite Teilnehmerin aus Saudi-Arabien erleben. Sie ist Mittelstreckenläuferin, startet über achthundert Meter und wird ebenfalls verhüllt antreten. Ihr Haar wird sie unter einer Kopfbedeckung verstecken müssen. Sie studiert an einer Universität in Kalifornien, wo sie selbst beim Training entsprechend ausstaffiert ist. Welches Handicap für eine junge Frau, inmitten einer doch recht freizügigen Gesellschaft, aber auch welcher unbändige Wille ihre sportlichen Ambitionen für ihr Land nach Olympia zu tragen. Dafür nimmt sie alle sportlichen Nachteile in Kauf. Sie quält sich für die Frauen insgesamt aus ihrem Kulturkreis. Sie möchte beweisen, welches Potential muslimische Frauen haben, zu welchen Leistungen sie fähig sind, wenn man sie nur lässt. Ähnlich wie die junge Judoka aus Mekka wird sie später einmal zu den Wegbereiterinnen der Frauenemanzipation in ihrem Heimatland zählen. Die saudiarabische Gesellschaft wird ihnen dafür dankbar sein, denn es waren diese mutigen Frauen, die den Weg in eine moderne, globalisierte Gesellschaft erkämpft haben.

 Das Öl wird dann in ihrem Land nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Das Auftreten solcher Frauen zeigt, dass der Wandel einer Gesellschaft unmittelbar bevorsteht. Nicht anders war es im englischen Königreich, als die Frauenvereine einen tiefgreifenden Wandel der komplett von Männer dominierten Gesellschaft einleiteten. Dieser Vorgang wiederholt sich jetzt in den muslimischen Gesellschaften. Es wird höchste Zeit, denn der Globalisierungsprozess macht auch vor diesen Staaten nicht Halt. Zudem sind ihre Ressourcen an Erdöl und Erdgas nicht unerschöpflich, da geht es den Russen schon besser. Alles dieses wird sich in dieser Form entwickeln und begonnen hat es mit einem schüchternen, vermummten Mädchen, das den olympischen Gedanken in London zutiefst ernst genommen hat: "Allein die Teilnahme zählt". 


Teilgenommen hat auch in der letzten Woche bei Olympia der russische Präsident Wladimir Putin. Zwar kam er nicht als Sportler, den er so gerne in seinen heimatlichen Medien gibt sondern als Inhaber eines schwarzen Gürtels der Judoka. Er wollte seinen russischen Kämpfer in dieser Sportart siegen sehen, um ihn zum Gewinn der Goldmedaille zu beglückwünschen. Es hat tatsächlich funktioniert und so sind wunderbare Bilder für die Menschen in Russland entstanden, nach dem Motto: erfolgreicher Athlet und erfolgreicher Präsident auf Augenhöhe. So etwas macht sich besonders gut, da es den andauernden Protesten von Putins Gegnern etwas Starkes entgegensetzt. Dafür lieben ihn die Menschen in den Weiten Russlands. Des Weiteren hat er in London auch noch etwas für seinen Ruf, ein lupenreiner Demokrat zu sein, getan. Plötzlich und unerwartet nimmt er sich der drei jungen Musikerinnen an, die kurz vor seiner Wahl zum Präsidenten, in der bedeutendsten russisch-orthodoxen Kathedrale in Moskau, den Klerus brüskiert und Putin diffamiert haben. Seit sechs Monaten sind die jungen Frauen inhaftiert. In einem Prozess droht ihnen eine Haftstrafe von fast zehn Jahren. Bisher sah es wirklich nicht sehr gut aus für die Pussy-Riots, so der Name der Band. An olympischer Stelle überkam den russischen Präsidenten aus heiterem Himmel eine demokratische Anwandlung, als er eine milde Strafe für die drei Mädels forderte. Umgehend schloss sich die Orthodoxe Kirche seiner Meinung an, sie sprachen von einem dummen Prozess. Dass es für die Aktion der Pussy-Riots im russischen Strafrecht überhaupt keinen Straftatbestand gibt, wie der russische Anwaltsverband erklärt, lässt ein entsprechendes Licht auf das Demokratieverständnis von Putin fallen. 

Die permanente Einschränkung der Pressefreiheit durch ihn tut ihr übriges. Dieses alles bietet London in diesen Tagen. Junge Frauen, die um ihre persönlichen Freiheiten ringen. Präsidenten, die aus einer guten Laune heraus, zu Recht protestierende Menschen nicht zehn Jahre in den Gulag schicken sondern nur fünf. Aber in den nächsten Tagen wird Frau Merkel nach London reisen. Warten wir einmal ab, womit sie uns von dort überraschen wird. 

 Peter J. König

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